Oberstes Nationales Gerichtshof greift den Fall Atenco auf
Kein Grund zum Jubeln
Von Jesus Aranda
La Jornada
7. Februar 2007
Nach langer Unklarheit über die Ausübung der Befugnisse nach Verfassungsartikel 97, beschloss die Vollversammlung des mexikanischen Obersten Nationalen Gerichtshofs (SCJN), gestern mit einer Mehrheit von sieben gegen vier Stimmen, sich den “Anforderungen unserer Gesellschaft” anzunehmen, und die mutmaßlich schwere Verletzung der Menschenrechte zu untersuchen, die sich in San Salvador Atenco, in Mai 2006 zugetragen haben.
Zum ersten Mal jedoch wird kein Richter des Obersten Gerichtshofs (Ministro) an einer Untersuchungskommission beteiligt sein; stattdessen wurden lediglich zwei Kreisrichter (Magisterio de Circuito) ernannt: Jorge Mario Pardo Rebolledo und Sergio González Bernabé.*
Diese Entscheidung wurde auf Vorschlag des vorsitzenden Richters des Gerichtshofs, Guillermo I. Ortiz Mayagoitia, angenommen um “die Angelegenheit herunterzuschrauben”. Außerdem bleibt die Reichweite der Nachforschung noch undefiniert; diese wird erst nach einer Ausarbeitung des Fallberichts durch Juan N. Silva Meza und einer dementsprechenden Überprüfung seiner Kollegen festgelegt werden.
Wie kommentiert wurde, unterstanden die Kommissionen des Gerichtshofes, auch mit Beteiligung von Justizbeamten, bisher stets dem Vorsitz eines Richter des Obersten Gerichtshofs, was ihnen mehr Stärke und Präsenz verlieh.
Offiziellen Quellen zufolge wurde die Entscheidung der Richter- wie im Fall von Margarita Beatriz Luna Ramos, die sich zunächst gegen eine Intervention des Gerichtshofes ausgesprochen hatte – durch die Petitionen der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH), der nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen, des UN Menschenrechtsbeauftragten, sowie politischen Leitfiguren beeinflusst, die anlässlich des Jahrestags der Mexikanischen Verfassung im Nationalpalast, in einem “kurzen” Kommentar die Frage aufgeworfen hatten, “wie es möglich sei, dass der Oberste Gerichtshof den Fall Lydia Cacho aufgegriffen habe, der nun eine Person betraf, und den Fall Atenco nicht?”
Der Vorsitzende Richter legte seine Position zugunsten einer Untersuchung unter der Anmerkung fest, dass “auch wenn keine Empfehlungen ausgestellt, (oder) ausgestellte Empfehlungen vernachlässigt wurden, werden die juristischen Kriterien der Verfassungsinterpretation bei dieser Thematik von großer Nützlichkeit sein, mehr noch, ich empfinde dies auf eine persönliche Weise, als eine Forderung unserer Gesellschaft”. Weiterhin sagte er, er empfinde es als eine soziale Forderung, dass der Gerichtshof intensiv über die fundamentalen Menschenrechte diskutiert, aber “wir haben (in dieser Materie) sehr wenige Verlautbarungen gegeben”.
Er präzisierte, dass die Kommission die “Vorfälle” in San Salvador Atenco nicht untersuchen werde, da dies bereits schon von der CNDH gemacht worden sei. Sie werde lediglich den Inhalt und die Reichweite der fundamentalen Menschenrechte bestimmen, und entscheiden inwiefern diese missachtet wurden und ob eine Verletzung von Rechten stattgefunden habe.
Er machte ebenfalls klar, dass trotz der Untersuchung und den Schlussfolgerungen der CNDH - bezüglich der Verletzung der Rechte auf das Leben, die Freiheit, die physische Integrität von Personen, die sexuelle Freiheit, der Privatsphäre und der Unverletzbarkeit der Wohnung – , die Empfehlungen der Menschenrechtskommission bis dato unerfüllt geblieben sind. Mehr noch, “die Empfehlung an die Präventive Bundespolizei wurde von deren Leiter (Eduardo Medina Mora, ehemaliger Bundesminister für Öffentliche Sicherheit und gegenwärtiger Generalstaatsanwalt der Republik) rundweg abgewiesen”.
Er fragte weiter: “Dürfen bei einer legitimen Intervention der Staatskräfte zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, die Menschenrechte der Beteiligten missachtet werden, oder müssen je nach Schwerefall Restriktionen gelten? Wer hat die Grenzen bei der Ausübung der Staatsgewalt vorgegeben? Scheinbar ist das alles nicht festgelegt.
“Dürfen bei einer Aktion zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, oder als sich daraus ergebende Konsequenz, Folterakte praktiziert werden, oder handelt es sich dabei um ein absolutes Verbot, das auf keinen Fall von der Autorität vernachlässigt werden darf?”
Er präzisierte, dass die Untersuchung über den Fall Atenco es dem Gerichtshof gestatten würde zu bestimmen, “in welchem Ausmaß die Menschenrechte bei Akten der sozialen Unordnung, die von der Polizei kontrolliert werden müssen, außer Kraft gesetzt werden dürfen”.
Nach Aussage der befragten Richter, wurde der Meinungsumschwung hauptsächlich durch die Äußerungen von Fernando Franco González-Salas begünstigt, der in seiner ersten Ansprache zu einem derartigen Thema hervorhob: “der Gerichtshof darf nicht von seiner hohen Verantwortung der Untersuchung absehen, nur weil andere Autoritäten bereits interveniert haben; wenn die Empfehlungen eines Staatsorgans für die Verteidigung der Menschenrechte – in diesem Fall der CNDH - ignoriert werden, muss der Gerichtshof intervenieren; weil die schweren Rechtsverletzungen das Leben einer ganzen Gemeinde beeinträchtigen. Dies soll aber nicht bedeuten, dass eine landesweite soziale Unordnung nötig ist, um eine Untersuchung zu eröffnen – wie es das ursprüngliche Gutachten vorschlägt – , weil auch die Rechte einer einzelnen Person verletzt werden können,
José Ramón Cossío argumentierte seinerseits, “wenn es nach den Festnahmen, Akte der körperlichen Gewalt, sowie der vermutlichen sexuellen und psychologischen Gewalt gegeben hat; wenn Ambulanzen der Zugang versperrt wird, oder wenn nächtliche Aktionen durchgeführt werden und die Häuser der Menschen gestürmt werden, scheint mir das Elemente zu beinhalten, die als schwere Rechtsverletzungen zu qualifizieren sind.”
Die Mehrheit der Richter, gebildet von Ortiz Mayagoitia, Juan Silva Meza, Genaro Góngora Pimentel, José Ramón Cossío, Fernando Franco, Olga Sánchez Cordero und Luna Ramos, unterstützten diese Kriterien, welche die Grundlage für die Bewilligung der Untersuchung boten.
Nichtsdestotrotz war der Beginn der Sitzung kompliziert. Gleich am Anfang rügte Ortiz Mayagoitia “jene, die sich als Angehörige der Bevölkerung von San Salvador Atenco ausweisend, Drohungen gegen einen der Richter dieses Hohen Gerichts gerichtet haben” – mit der Ausführung, dass es sich dabei um Richter Sergio Salvador Aguirre Anguiano gehandelt habe, gegen den bei der Versammlung vor dem SCJN am letzten Donnerstag beleidigende Rufe erhoben wurden.
Er rügte auch die Demonstranten, die vor dem Gerichtshof ein Urteil zu ihrem Gunsten forderten: “Diese Haltung ist nicht nur verwerflich, sondern auch unzulässig”, als Richter gehorchen wir nur dem Mandat der Verfassung und dem Gesetz, “nach unserer inneren Überzeugung, ohne uns von Unterdrucksetzungen, Drohungen oder unangemessenen Forderungen beeinflussen zu lassen”.
Seitens der Minderheit, die eine Untersuchung für unnötig erachtete, da diese bereits von der CNDH vorgenommen worden sei, rechtfertigte Mariano Azuela Güitrón seine Position mit der Erklärung, die weltweit steigende Anzahl von Massenveranstaltungen, würde dazu beitragen derartige Phänomene hervorzubringen, auch wenn dabei die Gewaltanwendung nicht beabsichtigt sei. Um größere Schäden zu verhindern sei dabei die Intervention der Staatsgewalt erforderlich, und diese Intervention führe zwangsläufig zu einer Multiplizierung der Gewalt.
In einem Versuch die Abstimmung umzuschwenken mahnte Azuela: “es wird ein Moment kommen, in dem ein Ausbruch sportlicher Leidenschaften bei einer Stadionveranstaltung, eine polizeiliche Intervention erforderlich machen wird, aufgrund dessen Situationen eintreten könnten, die als Verletzungen der individuellen Rechte ausgelegt werden könnten, und wir gebeten werden, mit der ganzen Leidenschaft, die dem Sport zueigen ist, eine Untersuchung zu leiten. Damit werden wir ein sehr seltsames Kapitel des Gerichtshofes aufschlagen, nämlich genötigt zu sein, aufgrund sportlicher Leidenschaften eine Untersuchung zu führen, weil die Verletzten der einen oder anderen Mannschaft angehören. “
übersetzt von Dana
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