<i>"The Name of Our Country is América" - Simon Bolivar</i> The Narco News Bulletin<br><small>Reporting on the War on Drugs and Democracy from Latin America
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Narco News Issue #42

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Ein Fußmarsch für die Würde: „Das mexikanische Volk ist müde. Es ist müde von all der Korruption, dem Raub und den schlechten Regierungen.“

Ein anthropologischer Beitrag zum sozialen Kampf der APPO (Volksversammlung des Volkes von Oaxaca)


Von Nives Gobo
Ausschließlich für The Narco News Bulletin

13. Oktober 2006

Schon seit Tagen marschieren sie auf den betongepflasterten Bundesstrassen Mexikos, die erwärmt von der heißen Septembersonne, wie brennende Steine glühen. Sie sind Frauen und Männer aus dem südlichen Bundesstaat von Oaxaca. Sie sind Volkschullehrer, Mitglieder aus der demokratischen Reformströmung Magisterio Democrático Oaxaqueño de la Sección 22, einer Unterorganisation der nationalen Lehrergewerkschaft SNTE (Sindicato Nacional de Trabajadores de la Educación). Langsam, aber von einer bemerkenswerten inneren Stärke getrieben, schreiten sie in einer langen Menschenkarawane voran. Sie sind erschöpft, doch immer wieder rufen sie mit kraftvollen Stimmen „APPO, APPO, APPO“ und schreien damit nicht nur den Namen ihrer sozialen Bewegung in die Welt hinaus, sondern auch all das wofür sie steht. Im Juni diesen Jahres hat sich die APPO (Asamblea Popular del pueblo oaxaqueño) als Dachorganisation unterschiedlicher sozialer Bewegungen in Auflehnung gegen die repressiven politischen Praktiken der Regierung im südlichen Bundesstaat von Oaxaca geformt. Jetzt, einige Monate später, haben sich 3000 Mitglieder der APPO auf den Weg gemacht, um ihre Botschaft ins Zentrum des Landes zu tragen. Ihre müden Füße und ihr stolzes Herz treiben sie unbeirrt in Richtung der mexikanischen Hauptstadt. In ihren Händen tragen sie mexikanische Flaggen, große Tücher mit dem Abbild des Reformers Benito Juárez und Spruchbänder, auf denen geschrieben steht „Ulises Ruiz raus aus Oaxaca!“ oder „Den 14.Juni vergessen wir nicht!” Immer noch lebt die Erinnerung an die von dem Provinzgouverneur Ulises Ruiz Ortiz verordnete Repression ihrer sozialen Protestbewegung am 14.Juni 2006 in ihnen fort. Die gewaltvollen Ereignisse, die für einige ihrer Kameraden den Tod brachten, machen ihre Herzen schwer. Doch gleichzeitig geben sie ihnen Kraft weiterzugehen. Sich nicht beirren zu lassen, sich nicht abbringen zu lassen von ihrem Ziel. „Halt aus Oaxaqueño. Haltet aus Lehrer. Ihr seid nicht allein. Das Volk ist mit euch“, rufen ihnen die Menschen aus den Dörfern, die sie während ihrer Reise durchqueren, immer wieder zu und vergrößern damit ihren Kampfgeist.

Ist es ein Kampf? Ja. Es ist ein Kampf gegen die unterdrückenden politischen Praktiken der mexikanischen Regierung. Und es ist ein Kampf für eine bessere Zukunft; eine Zukunft, in der das Leben der Vergessenen Mexikos endlich lebenswert werden soll. „Wir wollen Gerechtigkeit, wir wollen eine bessere Zukunft und wir wollen, dass die schlechten Regierungen, die uns nur ausbeuten und nicht helfen, verschwinden“, sagt eine Frau mit einem Strohhut auf dem Kopf und drückt damit einerseits die tiefe Verzweiflung aus, von welcher der Überlebenskampf der untersten sozialen Schichten getragen wird. Anderseits sprechen ihre Worte aber auch von dem unermüdlichen Kampfgeist der Marschierenden. Hinter ihnen liegen hunderte von Kilometern, die sie in den letzten Tagen zurückgelegt haben. Vor ihnen die Hoffnung darauf, dass die Bundesregierung ihrer Forderung nach der Absetzung des Provinzgouverneur Ulises Ruiz Ortiz nachkommen wird.

Vor einigen Monaten fing alles an. Am 22.5.2006. Auf dem Zócalo von Oaxaca Juárez. Der Landeshauptstadt des gleichnamigen südlichen Bundesstaates; jener Region, die sich durch eine sehr hohe, indigene Bevölkerungsanzahl auszeichnet und zu den ärmsten des Landes zählt. Bereits seit vielen Jahrzehnten existieren in Oaxaca Korruption und Bestechung innerhalb der regierenden politischen Reihen. Dabei ziehen Politiker und wirtschaftliche Unternehmer für ihr eigenes Wohlergehen großen Nutzen aus ihren Machtpositionen und bereichern sich, während Millionen von Menschen unter Bedingungen der extremen Armut nicht leben, sondern überleben. Auch Ulises Ruiz Ortiz werden seit seinem Amtsantritt im Jahr 2004 Korruption, Menschenrechtsverletzungen und repressive politische Maßnahmen gegenüber oppositionellen Gruppen und Gemeinden vorgeworfen. „Hier in Oaxaca haben die Menschen die Schnauze voll. Nach so vielen Jahren haben wir endlich ein politisches Bewusstsein. Und wir wollen keine Regierung mehr die raubt, tötet, korrupt ist“, erzählt ein Mitglied des SNTE, während er sich an die polizeiliche Repression des 14.6 erinnert, bei der viele Demonstranten nur einen knappen Monat nach Beginn der sozialen Protestbewegung von den staatlichen Polizeikräften gewaltvoll niedergeschlagen worden waren. Der Grund: Mitglieder aus der nationalen Lehrergewerkschaft hatten seit einigen Wochen die Strassen des Stadtzentrums von Oaxaca besetzt gehalten, um auf die miserablen Zustände der Schulen und die katastrophalen Umstände, unter denen sie unterrichten müssen, hinzuweisen. „Meistens bestehen die Schulklassen in den Dörfern aus Karton und Bambusstäben. Es gibt kein Unterrichtsmaterial, keine Bücher keine Tafeln, Kreiden, keine Schulbänke, keine Jausen. Die Kinder, die aus den ärmsten Bevölkerungsschichten stammen, müssen oft stundenlang gehen, um zu den Schulen zu gelangen. Oft frühstücken sie nicht, noch haben sie Hefte oder Bleistifte, denn ihre Eltern verfügen nicht über ausreichend finanzielle Mittel, um ihnen die nötigen Materialien zu kaufen. Es gibt keine Hilfe für diese Kinder“, erzählt eine indigene Volksschullehrerin. „Und wir, wir Lehrer, verdienen 5400 Pesos (390 Euro) im Monat. Es ist schwierig zu überleben, es reicht einfach nicht. Wir haben auch Familien, die wir ernähren müssen. Oft müssen wir lange Busreisen unternehmen, um zu den Schulen zu gelangen, die uns zugewiesen werden. Dabei geben wir viel Geld aus und sehen unsere Familien über mehrere Tage nicht. Unsere Kinder haben aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten keine Möglichkeit auf eine höhere Schulbildung. Es ist schwierig. Und unter solchen Umständen zu unterrichten, macht es noch schwieriger. Wir fühlen uns verantwortlich für die Kinder. Deswegen gehen wir auf die Strasse, um zu protestieren und die Öffentlichkeit auf unsere Probleme aufmerksam zu machen. Deswegen haben wir diese soziale Bewegung geformt, denn es bleibt uns nichts mehr anderes übrig, als gemeinsam, mit den vereinten Kräften des Volkes für unser Recht zu kämpfen“, sagt sie mit Tränen in den Augen, während ihre Kameraden laute Parolen von sich geben, um die Mitglieder der Gewerkschaft mit der Kraft ihrer Worte zu einen.

Der soziale Kampf für eine Verbesserung des Bildungssystems und eine Lohnerhöhung für die Lehrer ist in Mexiko nicht neu. Seit 1979 organisieren sich Lehrer und zahlreiche Mitglieder aus der zivilen Bevölkerung in demokratischen Gewerkschaften, um für ihre Rechte zu kämpfen und Druck auf die Regierung auszuüben. Bereits in drei großen Protestmärschen marschierten die Betroffenen in die mexikanische Hauptstadt, dem Zentrum der politischen und wirtschaftlichen Macht des Landes, um vor dem Senat der Republik Gehör für die Probleme ihrer lebensweltlichen Realitäten zu finden. Aber auch nach Jahrzehnten des Streiks, ergebnislosen Vermittlungsgesprächen mit der Regierung und demokratischen Reformversuchen hat sich an der Situation des mexikanischen Bildungssystems in den ärmsten Regionen des Landes nicht viel geändert. Die neoliberalen Praktiken der Regierung haben die Situation sogar verschlimmert. Denn anstatt effiziente Programme zu entwickeln, um die miserablen Lebensbedingungen der ärmsten Bevölkerungsgruppen zu verbessern, scheint es für die korrupte, machthabende Bourgeoisie Mexikos viel wichtiger zu sein, jene wirtschaftlichen und politischen Interessen zu verfolgen, die nur ihnen von Nutzen sind. „Diese politischen Gruppen müssen verschwinden. Und auch ihre Macht. Denn alles was sie machen, machen sie für sich selbst. Für die Reichen, für die Bourgeoisie. Nicht für das Volk. Die Demokratie ist für sie. Nicht für uns. Wo sind all die Steuern, wo ist all das Geld, das wir monatlich bezahlen, um den demokratischen Staat aufrecht zu erhalten? Es gibt so viel Korruption, so viel Raub in diesem Land. Alles wird an die ausländischen Investoren verkauft. Und für uns bleibt nichts übrig. Das Land ist müde geworden, das mexikanische Volk ist müde geworden. Es ist traurig, es macht uns wütend, denn wir haben erkannt, dass uns der Staat nichts geben wird. Wir halten es nicht mehr aus. Wir verteidigen uns, organisieren uns. Das was uns untereinander eint ist unser Schmerz“, erzählt ein Mann mit ausgeprägten Gesichtszügen und dunkelbraun leuchtenden Augen. Sein Blick verrät seine Ehrlichkeit, die Einfachheit seines bescheidenen Lebens und all jener, die in diesem sozialen Kampf seine Kameraden sind. Diese Menschen kämpfen für eine Verbesserung ihrer miserablen Lebensbedingungen. Sie kämpfen um eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Sie kämpfen dafür, nicht in der Vergessenheit zu sterben. Ihr Kampf ist unbeirrt und unermüdlich. Und er ist legitim. Denn, wenn den Mitgliedern einer Gesellschaft nichts mehr anderes übrig bleibt, als sich gegen das staatliche System aufzulehnen, dass ihnen die fundamentalsten Grundbedürfnisse ihres Menschseins als auch ihre Menschenrechte verwehrt, dann ist ihr sozialer Kampf einfach legitim. „Der Kampf hört niemals auf, denn wir sind als Bauern, Arbeiter, Lehrer, Indianer mit dem Kampf geboren. Wir müssen immer kämpfen, um zu überleben.“ Es ist eine Rebellion, aber eine friedvolle. Diese Menschen sind bescheiden. Sie sind Arbeiter, Bauern, Studenten, Lehrer, Indianer. Sie haben keine Waffen. Der soziale und politische Widerstand der Vergessenen Mexikos gegen das für sie nicht funktionierende Staatssystem ist friedvoll. Er sucht keinen Krieg, er sucht Verständnis. Er sucht keinen Krieg, er sucht Hilfe. Er sucht keinen Krieg, er sucht ein besseres Leben. Doch das was er findet, ist Gewalt.

Systematische Gewalt. Gewalt die verletzt, unterdrückt, verneint. Von der mexikanischen Regierung systematisch eingesetzte Gewalt, die jene Stimmen auslöschen will, die von der Wahrheit sprechen. Von der Wahrheit über die soziale, politische und wirtschaftliche Situation einer in die Freiheit entlassenen ehemaligen Kolonialgesellschaft. Vielleicht ist es nicht die Wahrheit der urbanen Mittel- und Oberschicht; und vielleicht ist es auch nicht die Wahrheit der machthabenden mexikanischen Bourgeoisie. Aber es ist die Wahrheit des México abajo, des México profundo, jenes Mexikos der 50 Millionen Vergessenen, die am Rande der Gesellschaft existieren. Doch wenn sie die Wahrheit ihres Überlebenskampfes in die Welt hinaus schreien, schallt kein Verständnis zurück; keine Anteilnahme, kein Interesse, kein Mitgefühl. Sondern Repression.

Eine politische Strategie der mexikanischen Regierung, die bereits seit Jahrzehnten eingesetzt wird, um rebellierende soziale Bewegungen und Demonstrationen zu kontrollieren, ist deren gewaltvolle Unterdrückung. Das sich im Ausland gerne als demokratischer Rechtssaat präsentierende Land, hat es bis heute nicht geschafft, die historischen Spuren der 70 jährigen diktatorischen Vergangenheit des PRI (Partei der institutionellen Revolution) hinter sich zu lassen. Der mexikanische Rechtstaat unter der konservativen Regierung des Präsidenten Vicente Fox Quesada ist geschwächt und es scheint als würde er seine Autorität nur mit Gewalt durchsetzen können. Mit dem Einsatz von systematischen Menschenrechtsverletzungen wird die „öffentliche Ordnung“ im Land hergestellt. Vor allem kleine soziale Bewegungen, die sich über viele Monate hinweg organisieren und in kraftvollen Protesten die Öffentlichkeit auf ihre Probleme aufmerksam machen, werden zu Zielscheiben repressiver staatlicher Maßnahmen. Dieses Schicksal wurde auch den Mitgliedern des Lehrerstreikes des SNTE am 14.6.2006 zu teil. Anstatt auf Verständnis für ihre Forderungen seitens der Regierung von Ulises Ruiz zu stoßen, wurden die Lehrer, die seit einem Monat die Strassen des Zentrums von Oaxaca besetzt hielten, in den frühen Morgenstunden einer gewaltvollen polizeilichen Repression ausgesetzt. Mit Tränengasgranaten, Hunden und scharfer Munition bewaffnet, rückten die staatlichen Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten vor. Sie zerstörten den plantón (Platzbesetzung), das logistische Equipment und alle Utensilien, die von den Protestierenden in dem letzten Monat ihres Lebens in den Strassen und Gassen von Oaxaca verwendet wurden, um ihre Bewegung lebendig zu halten. Während der gewaltvollen Vertreibung starben vier Personen und 95 wurden zum Teil schwer verletzt.

Die mexikanische Bundesregierung dachte, dass sie durch diese Aktion die soziale Bewegung zerschlagen könnte; dass sie sie zum Schweigen bringen würde; dass sie den Demonstranten Angst einflössen, sie erschrecken und ihnen die Motivation zum Kampf nehmen könnte; dass sie durch die brutale Durchsetzung der Staatsmacht ihre Autorität zurückerlangen und die öffentliche Ordnung wieder herstellen würde.

Doch sie täuschte sich. Denn nur einige Tage nach der polizeilichen Repression gegen den Lehrerstreik, schlossen sich die Mitglieder des SNTE gemeinsam mit anderen 350 Gewerkschaften, Indigena- Verbänden, Studentenorganisationen, Dörfern und zahlreichen Personen aus der zivilen Bevölkerung in einer Dachorganisation zusammen, um die von der Lehrergewerkschaft initiierte soziale Bewegung mit vereinten Kräften größer und stärker zu machen. Die APPO (Asamblea Popular del pueblo oaxaqueño) war geboren. Es war der 20.6.2006. Und in den nächsten Monaten würde diese junge Dachorganisation ihren zivilen Aufstand, dessen Mitgliedern es nicht mehr nur um die Verbesserung des Bildungssystems ging, sondern um die Absetzung des Provinzgoverneurs Ulises Ruiz, zu der größten sozialen Bewegung in der mexikanischen Geschichte machen. Mit vereinten Kräften besetzten sie von Neuem die Strassen und Gebäude des kolonialen Stadtzentrums von Oaxaca. Organisierten Protestmärsche, Kulturveranstaltungen, Informationsabende. Friedvolle Barrikaden und Straßenblockaden; überall bauten sie große Zelte auf. Bald formten die Mitglieder der APPO eine Volksversammlung, um über die nächsten Schritte und Strategien ihrer sozialen Bewegung zu diskutieren. Und sie dachten darüber nach, wie sie in Zukunft eine basisdemokratische und parteiunabhängige, weil volksnahe Politik und Regierungsform entwickeln könnten, die den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ansprüchen des Volkes von Oaxaca gerecht würde. Dabei stützen sie sich auf ein in der mexikanischen Verfassung anerkanntes Gewohnheitsrecht, das Recht der usos y costumbres, um bestimmte Entscheidungen gemäß ihrer indigenen Traditionen zu treffen. Obwohl dieses Gesetz von der mexikanischen Verfassung anerkannt wird, kommt es in Oaxaca, als auch in anderen Regionen des Landes zu keiner Anwendung der ley indígena. Nur im begrenzten Rahmen wird den indigenen und bäuerlichen Gemeinden zugestanden über ihre Belange selbst zu entscheiden. „Während dieses Prozesses kam auch die Idee auf, eine neue Konstitution für unser Bundesland zu machen. Eine, in der das Volk das Recht hat Entscheidungen zu treffen, mitzuregieren. Keine Demokratie von oben, gelenkt durch die Bourgeoisie, sondern eine Demokratie von unten, eine partizipative Demokratie. Die politischen Entscheidungen müssen transparent werden für die Augen des Volkes. Wir müssen wissen wie viel wir einzahlen, wie viel ausgegeben wird, was geschieht, welche Projekte es gibt und welche nicht. Es muss zu einer stärkeren Transparenz kommen,“ erzählt ein führendes Mitglied der APPO.

Die soziale Bewegung der APPO wuchs Tag für Tag. In der Anzahl ihrer Mitglieder, in ihrer Organisationskapazität, in ihrer Motivation. In ihrem Mut, Kraft und Willen. Bald begann die APPO kommerzielle Radio- und Fernsehstationen zu besetzten. Der Grund: der Großteil der privaten und staatlichen Medien wird in Mexiko von den korrupten Machenschaften der Politiker und Unternehmer regiert. Der Wahrheitsgehalt der vermittelten Nachrichten ist nur sehr gering, denn er stellt immer nur eine Sicht der Geschehnisse dar, nämlich jene, die der mexikanischen Regierung und ihren repressiven Praktiken zu Gute kommt. Die kommerziellen Medien konstruieren ein sehr bruchhaftes Bild der lebensweltlichen Realitäten. In der derzeit vorherrschenden öffentlichen Meinung sind die Protestierenden in Oaxaca wilde, rebellierende Gesetzesbrecher, die mit ihren gewaltvollen Demonstrationen die Stadt von Oaxaca zerstören, Waffen mit sich herumtragen, bewaffnete Konflikte heraufbeschwören, Regierungsgebäude besetzen, die Kinder daran hindern, zur Schule zu gehen und in öffentlichen Gebäuden randalieren. Sie stellen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar und müssen durch den Einsatz von staatlicher Gewalt kontrolliert und gebändigt werden. In dem durch die manipulierende Kraft der Medien vermittelten Bild über die Geschehnisse in Oaxaca, wird die staatliche Repression gegen die soziale Bewegung der APPO legitimiert. Niemand spricht ausführlich über die Situation der Menschen, ihre Probleme, ihren Überlebenskampf. Das sind in der Meinung der kommerziellen Medien anscheinend nur nebensächliche Details am Rande. Die quotensteigende Nachricht einer gewaltvollen Revolte in Oaxaca muss aufrechterhalten werden, um der staatlichen Autorität Kraft zu verleihen. Deswegen die Besetzung, deswegen die Gründung von alternativen Medien und einer eigenen Radiostation- Radio Plantón.

Die Mitglieder der APPO fingen bald damit an, viele Teile der mexikanischen Bevölkerung über ihre Probleme, Ziele und Forderungen zu informieren. Über ihre Sicht der Dinge. Das politische Bewusstsein vieler Menschen der zivilen Bevölkerung wuchs und drückte sich in einer motivierenden Unterstützung der APPO und ihres sozialen Kampfes aus. Langsam verwandelte sich Oaxaca zu einer vom Volk besetzten Stadt. Die Autorität der Regierenden begann zu schwinden. Oaxaca war nicht mehr regierbar, sie folgte nicht mehr den demokratischen Gesetzten der Regierenden, sondern jenen des Volkes. Volksversammlungen, Volksmacht, die Kraft des Volkes. Die Revolution hatte begonnen.

Nun konnte die Regierung von Ulises Ruiz keine weitere Repression planen. Denn die Bewegung der APPO wuchs Tag für Tag; und sie wurde stärker, mächtiger. Die Kraft eines verärgerten, fordernden, sich verteidigenden Volkes war zu spüren. Nicht nur in Oaxaca, sondern im gesamten Land. Am 29. August sah die mexikanische Regierung ein, dass sie sich in Vermittlungsgesprächen mit den führenden Mitgliedern der APPO zusammen setzten musste, um eine Lösung für den schon seit drei Monaten andauernden Konflikt zu finden. Dass der schwellende Ausnahmezustand nicht durch Gewalt gelöst werden konnte, sondern durch Kommunikation. Doch Mitte September wurden die Verhandlungen ergebnislos abgebrochen. Es kam zu keiner Übereinkunft. Denn seitens der mexikanischen Regierung besteht kein Angebot, dass die Mitglieder der APPO zu frieden stellen könnte. Sie geht nicht auf die Forderung ein, Ulises Ruiz auf Basis der mexikanischen Verfassung abzusetzen. Es gibt auch keine konkreten Zusagen, dass es zu einer Verbesserung des Bildungssystems oder einer Lohnerhöhung für die Lehrer kommen wird.

Die APPO wand sich von den Vermittlungsgesprächen mit der Regierung ab und arbeitete unbeirrt an der organisatorischen und ideologischen Stärkung ihrer sozialen Bewegung weiter. Der „Fußmarsch für die Würde“ sollte ihre Botschaft durch das Land tragen; er sollte die mexikanische Bevölkerung auf die Forderungen der APPO aufmerksam machen und die Menschen über die Wahrheit aufklären; er sollte der Protestbewegung eine neue Kraft verleihen mit der sie bis vor den Senat in der mexikanischen Hauptstadt marschieren würde, um von den Regierenden gehört zu werden. „Mit jeder Repression wurden und werden wir stärker. Mit jeder Repression einen wir uns mehr, wir einen uns als Volk. Wir werden die respektlosen Angebote der Regierung nicht einfach so akzeptieren, wir wollen, dass unsere Forderungen erfüllt werden. Wir wollen, dass Ulises Ruiz geht. Der Fußmarsch der Würde ist ein Marsch des Friedens. Wir wollen durch das Land marschieren, um ein Bewusstsein für unsere Probleme zu schaffen. Nur so können wir Gerechtigkeit schaffen. Es geht um die Würde des Volkes von Oaxaca, um die Würde des mexikanischen Volkes. Wir wollen, dass die Menschen wissen, welche Probleme wir haben. Das ist ein intellektueller Krieg, ohne Waffen. Es geht um die Schaffung eines Problembewusstseins“

Langsam schreitet die lange Menschenkarawane des Fußmarsches der Würde voran. Aus den Lautsprechern, die auf dem Dach eines weißen Kombi befestigt sind, in dem Zelte, Wasser, ein Erste- Hilfekasten und andere Reiseutensilien transportiert werden, tönen revolutionäre Lieder und kraftvolle Stimmen, die zum sozialen Kampf aufrufen. Viele der Marschierenden sind von dem langen Fußmarsch und den ruhelosen Nächten auf den Strassen erschöpft. Manche tragen schon seit Tagen aus weiblichen Hygienebinden gemachte Schuheinlagen, um den Schmerz, der durch das unermüdliche Gehen verursacht wird, abzumildern. Andere bewegen sich in schnellen Schritten voran. Es scheint als hätte sie der tagelange Fußmarsch in einen hypnotischen Zustand versetzt. Sie sind müde, erschöpft, fragen sich wie es ihren Kameraden in Oaxaca angesichts der Bedrohung einer militärischen Zerschlagung der sozialen Bewegung durch die staatlichen Kräfte geht; und machen sich Gedanken darüber, was ihnen noch auf dieser Reise widerfahren wird. Das was sie vorantreibt und ihnen Kraft gibt weiterzugehen, ist die Würde in ihren Herzen und die Zuversicht darauf, dass ihre politischen Forderungen von den Mächtigen des Landes erhört werden. „Die Anstrengung zahlt sich aus, es zahlt sich aus. Denn es ist für das Wohlergehen des mexikanischen Volkes. Unser Schmerz eint uns und gibt uns die Kraft diesen Kampf weiterzuführen“, sagt eine erschöpfte junge Frau, während einige ihrer Kameraden ihre schmerzenden Füße massieren. „Weißt du es ist absurd. Während die Unternehmer aus Oaxaca, die Reichen, eine Beendigung des Konfliktes fordern, weil sie aufgrund des Ausnahmezustandes im gesamten Biundesland in den letzten Monaten große finanzielle Verluste einstecken mussten, marschieren wir als Vertreter der ärmsten sozialen Bevölkerungsschichten schon seit Tagen durch das Land, um für ein besseres Leben zu kämpfen. Es ist traurig und macht mich wütend, dass diese Reichen einfach nicht verstehen, wie wir leben und dass unser Leben von viel Armut geprägt ist. Wir wollen Gerechtigkeit und ein Leben in Würde, und wir wollen Verständnis für unsere Probleme.“

Auch heute Nacht werden die 3000 marschierenden Mitglieder der APPO in einer kalten, großen Sporthalle eines zentralmexikanischen Dorfes schlafen, um Kraft zu sammeln und ihre Reise am nächsten Tag fortzusetzen. Dort wird sie ein kleines Buffet erwarten, dass die Dorfbewohner in Solidarität für die Lehrer vorbereitet haben, um sie in ihrem sozialen Kampf zu unterstützen. Denn viele von ihnen kennen den Schmerz der Vergessenen Mexikos, die tagtäglich um ihr Überleben kämpfen müssen. Und während sich manche in ihren mitgebrachten Zelten, andere auf aufblasbaren Matratzen und wieder andere auf einen Karton, der die Kälte und Härte des Betonbodens wenigstens ein bisschen abwehren wird, zur Ruhe begeben, geht der unermüdliche Kampf dieser Menschen in ihren Herzen weiter. In den bevorstehenden Wochen wird er ihnen die Kraft geben, auch weiterhin unbeirrt und mit vereinten Kräften auf ihre Forderungen zu bestehen.

Der Kampf der Vergessenen für ein Leben in Würde und eine bessere Zukunft hört nicht auf.

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