In Quintana Roo trifft Marcos auf einen Staat in Bewegung
Der zapatistische Subcomamndante hört vor Ort die Geschichten
vom unermüdlichen Kampf und dem Streben nach Veränderung
Von Teo Ballvé
Der Andere Journalismus an der Seite der Anderen Kampagne
17. Januar 2006
„Auf den Friedhöfen und in den Gefängnissen sind die, die für soziale Gerechtigkeit kämpfen, während die Kriminellen an der Regierung sind“ sagte der Delegierte Null Marcos auf einer Versammlung mit Sympathisanten in der Stadt Chetumal, der Hauptstadt von Quintana Roo am Sonntag. “Es sollte andersherum sein und eines Tages wird sich alles ändern. Bis das geschieht”, beschwor Marcos die Versammlungsteilnehmer „nicht aufzugeben und eure Kämpfe weiterzukämpfen.“ Den ganzen Tag über traf er Sympathisanten und Teilnehmer der Anderen Kampagne um ihren Geschichten über Kämpfe vor Ort zuzuhören.
In einer Rede später in der Nacht im Park La Alameda, der ersten öffentlichen Veranstaltung außerhalb von Chiapas, bezog er sich auf die Kämpfe, von denen er während der Versammlungen gehört hatte. Er erzählte einer Zuhörerschaft von rund 700 Personen, er sei nicht zu ihnen gekommen um die Bewegungen anzuführen, die in der Gegend lang und hart gekämpft hätten, sondern um von ihnen zu lernen, denn die Zapatisten „brauchen eure Hilfe“.
„Es gibt eine Menge Schmerz hier“, sagte er, „Ich habe heute viele Geschichten über Schmerz gehört.“ Er ging speziell auf den Schmerz der Maya-Kleinbauern von Nicolás Bravo ein, die illegale Aneignung von hunderten Hektar ihres Ejidos (in etwa: Landreformgenossenschaft) und die gewaltsamen Übergriffe des Staates gegen die Gemeinschaft Mahahual, die gegen den Raub ihres Küstenlandes kämpft.
Dieses Land steht nicht zum Verkauf
Zwei Kleinbauern aus Nicolás Bravo waren die Ersten, die mit dem Subcomandante sprachen in der ersten von zwei Versammlungen, die den Großteil des Tages dauerten. Es hätten gern mehr Leute aus ihrem Ejido an der Versammlung teilgenommen, aber pünktlich wie ein Uhrwerk trafen Lastwagen der PRI in ihrer Stadt ein, die Lebensmittel, Laken, Kleidung und Geld verteilten um die Kleinbauern dazu zu bewegen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Entschieden auf die Gelegenheit, Marcos persönlich zu treffen, nicht zu verzichten, kamen die Kleinbauern nach Chetumal um die Probleme darzulegen, denen die Leute ihres Ejidos gegenüberstehen.
Der jüngere der beiden Bauern sagte: „Ich sorge mich besonders um den Artikel 27 der Verfassung, der die Agrarangelegenheiten reformiert hat. Und hier in Quintana Roo haben viele Ejidos Versammlungen abgehalten, um zu entscheiden, ob sie an PROCEDE (dem Regierungsprogramm zur Privatisierung von Gemeinschaftsland) teilnehmen wollen und viele indigene Gemeinschaften wollen das nicht. Und nicht alle Ejidos akzeptieren den Vorschlag der Regierung. Deswegen wollte ich fragen, was dieses Projekt für unsere Gemeinschaft bedeuten würde.“
Marcos erklärte: „Seit der Reform durch (den früheren Präsidenten) Salinas und dann durch Zedillo und Fox hat der Staat dem Ejidoland und dem Gemeinschaftseigentum ein Ende gemacht …. indem er es in Land verwandelt hat, das gekauft und verkauft werden kann. Und damit beginnt die ökonomische Offensive, die die Bauern soweit in die Armut treibt, daß sie nichts mehr als ihr Land anzubieten haben. Und die Reform erlaubt ihnen es zu kaufen und zu verkaufen, aber die Bauern sind so arm, daß die einzige Möglichkeit darin besteht zu verkaufen. Also verkaufen sie.“
Um einen kleinen Tisch herum hockend dauerte der Meinungsaustausch um PROCEDE ungefähr 20 Minuten: Sie unterhielten sich über mexikanische Geschichte, Landfragen, die Erfahrung der Zapatisten und Konflikte mit der Regierung. „Früher gehörte das Land nicht denen, die es bearbeiteten,“ sagte Marcos, „und jetzt ist die Situation die gleiche. Das Land gehört nicht mehr denen, die es bearbeiten. Damals organisierte der General Emiliano Zapata den Aufstand, jetzt ist es an uns, den Kampf in unsere Hände zu nehmen.“
Die beiden Bauern unterbrachen ihn von Zeit zu Zeit, um Fragen zu stellen und drückten ihr Einverständnis mit den Antworten des Delegierten durch Nicken aus. Die alten Männer erklärten, daß jedes Mal, wenn die Gemeinschaft versucht habe, sich zu organisieren, die Regierung eingriff, um sie zu unterdrücken oder mit Geschenken zum Schweigen zu bringen.
„Bist du Marquitos (Marcoslein)?”, fragte ein anderer, sehr viel älterer Bauer. „Ja“, antwortete der Zapatist. „Gut. Sieh mal, wir haben dreißig Jahre lang gekämpft und sind müde. Und es gibt keine Hilfe.“ Der alte Mann fing an zu erzählen wie, egal wer auch an der Regierung ist, es nie dauerhafte Veränderungen in seiner Gemeinschaft gegeben hat. Er wurde immer frustrierter als er von den Politikern erzählte, die die Unterstützung der Gemeinschaft verlangt hatten. Schließlich schien es ihm zu viel zu werden und er fing an, visitenkartengroße Wahlkampfpropagandakarten aus seiner Tasche zu holen. Er warf eine nach der anderen vor dem Subcomandante auf den Tisch, während er die Namen der Politiker verfluchte.
Land, ja, Flugzeuge, nein!
Tatsächlich waren Landkonflikte und Mexikos im Niedergang befindliche Parteien ein immer wiederkehrendes Thema. Einer der heißesten Landkonflikte der Region ist die Kontroverse über den Ausbau des Internationalen Flughafens von Chetumal. Der Flughafen wurde in den vierziger Jahren gebaut, aber die vertriebenen Bauern, die auf dem Ejidoland gelebt hatten, auf dem der Flughafen gebaut wurde, erhielten nie eine Entschädigung für ihr Land. Unter dem Transparent „San Salvador Atenco marcó el camino“ (in etwa: „San Salvador Atenco hat gezeigt, wie es geht“), in Anspielung auf den erfolgreichen Widerstand von Bauern gegen den Bau eines internationalen Flughafen außerhalb von Mexiko-Stadt verlangen die Bauern von Chetumal Entschädigung für die 229 Hektar, die ihnen auf illegale Weise weggenommen worden waren.
Nach einem Treffen mit den Bauern in 2001 sagte der damalige Gouverneur Joaquín Hendricks Díaz der Zeitung El Día, daß der Flughafen das Herzstück seines Planes, „(Quintana Roo) mit Belize, Guatemala und Zentralamerika zu integrieren“ sei und daß „es den langgehegten Traum verwirklichen (würde), Chetumal zum strategischen Herzen der Mayawelt zu machen.“
Die Umsetzung des Plan Puebla Panamá (PPP) – einer von der Weltbank finanzierten Initiative für Zentralamerika und Südmexiko – sieht den Ausbau des Flughafens von Chetumal vor, damit die Stadt als regionaler Knotenpunkt für Tourismus und Handel dienen kann. Die Entscheidung, den Flughafen unter den Vorzeichen des PPP zu erweitern, hat die Forderungen der Bauern nur noch verschärft. „Der Plan Puebla Panamá ist nichts anderes als eine perfekte Definition der Interessen einiger weniger Ausländer in unserem Land“, sagt Álvaro Marrufo, der als Vertreter des Ejido von Chetumal gekommen war, um mit Marcos zu sprechen.
Marrufo erzählte der Menschenmenge, daß die Regierung den Flughafen auszubauen und dann zu privatisieren beabsichtige und daß sie trotz des beträchtlichen Profits, den sie sicher beim Verkauf erzielen würde, die Gemeinschaft landlos zurücklassen würde. „Ich denke, es ist offensichtlich, daß es die Absicht der Bundes- und der Staatsregierung von Quintana Roo ist, uns von unserem Land zu vertreiben, um es zu kommerzialisieren und es später mit einem saftigen Profit an internationale Konzerne zu verkaufen.“
Jüngst beschlagnahmte die Regierung 90 Hektar Land von den an den Flughafen anliegenden Wohngebieten. Wiederum, so Marrufo, wurden die rechtlichen Bestimmungen komplett ignoriert und die Anwohnern wurden gezwungen, eine lächerlich niedrige Summe anzunehmen. “In einem unverhohlenen Schritt, unser Land zu enteignen, wird dieses Land illegalerweise von der staatlichen Institution kommerzialisiert, die die Behörde ist, die laut dem Gesetz für unsere Rechte als Ejidatarios (Mitglieder einer Landreformgenossenschaft)kämpfen sollte”, fügte er hinzu.
Fernando Cortés de Basdefer, ein Archäologe, der den Delegierten Null und die Versammlungen in seinem Haus beherbergte, kommentierte: “Die Bauern haben sich entschlossen, in dieser Sache nicht einen Schritt zurückzugehen, weil sie nicht bezahlt wurden und solange dies nicht geschehen ist, wird ihr Kampf weitergehen.“
“Wenn die Regierung mich kommen sieht, schließen sie die Tür”
Die Küstenstadt Mahahual hat ein ähnliches Problem. 1979 schloß sich eine Gruppe von Familien in der Asociación Hermanos Flores Magón zusammen, um gegen den Landraub durch Tourismusunternehmen zu kämpfen, als der Touristenboom von Cancún südwärts nach Chetumal kroch. Ein Stück Land wurde gegen ihren Willen an Isaac Hamui Abadi verkauft, einen reichen Unternehmer mit guten Beziehungen zu Ex-Gouverneur Joaquín Hendricks Díaz. Abadi hat eine Mauer um seinen Besitz gebaut, m die Bewohner Mahahuals daran zu hindern, den Strand in der Nähe seines Landes zu betreten.
Einer der Führer der Asociación, Sergio Benjamín Carvajal Rejón, zeigte Ihren Korrespondenten einen Stapel Briefe, die er an staatliche Behörden geschickt hatte, in denen er sie aufforderte, einzugreifen, um den Konflikt zu lösen. Zu dem Stapel ehörte auch eine kleinere Zahl von Antwortbriefen. Eine Antwort der Staatsregierung besagte, es sei „technisch und rechtlich unmöglich“ einzugreifen. Ein anderer Brief, dieser aus der Feder Carvajals, schildert die Gewalt- und Einschüchterungskampagne gegen die Mitglieder der Asociación.
Carvajal sprach zum Publikum der Versammlung: „Wenn ihr alle geht“, sagte er, indem er in Richtung der Presse und des Tisches, an dem Marcos saß, nickte, „wenn die Presse gegangen ist, wenn all das vorbei ist und alle zurück nach Hause gehen, werden wir hier sein, um die Repression zu empfangen, die sicher durch die Regierung oder ihre Komplizen erfolgen wird.“
Carvajal fügte hinzu, daß die Menschen in Chetumal sich fortlaufend der Repression durch die Regierung ausgesetzt sehen und daß sie Kommunikationsmöglichkeiten oder Medien brauchen, die den Rest des Landes und der Welt aufrütteln angesichts „der Repressalien, der Ungerechtigkeiten, die die Regierung uns antut.“ Eine seiner größten Beschwerden; abgesehen von der Gewalt gegen ihn und seine Kollegen, war, daß die Regierung sie im wahrsten Sinne des Wortes ausschließt: „Wenn sie mich kommen sehen, verriegeln sie die Tür der öffentlichen Behörden, als wenn sie geschlossen wären.“
Eine Tür wird geschlossen, eine andere wird geöffnet
In Chetumal und dem Rest von Quintana Roo wird der Delegierte Null über diesen und andere Kämpfe informiert, die die Menschen dieses Staates ausgefochten haben. Hier ist kein Mangel an Geschichten für den Subcomandante, Geschichten von und über Menschen, die von unten aus kämpfen und nach links. Er kam in dieses Land der Maya, um die neuste Mission der Zapatistas voranzubringen, wie sie in der 6. Deklaration aus dem Lakandonischen Dschungel beschrieben wird:
„Was wir euch fragen werden, ist, wie eure Leben verlaufen, euer Kampf, eure Gedanken darüber, wie es um das land steht und was wir tun können, damit sie (die Neoliberalen)uns nicht besiegen, ... Und je nach dem, was wir hören und lernen, werden wir…. einen nationalen Kampfplan konstruieren, aber einen Plan, der klar ein linker sein wird, das heißt antikapitalistisch, oder antineoliberal, oder was auch gesagt werden muß, für Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit für das mexikanische Volk.“
Auf der Tribüne im Park La Alameda sagte Marcos der Menschenmenge ruhig: „Wir müssen uns entscheiden, ob wir weiterhin mit dem gegenwärtigen Land leben wollen, das uns ausschließt, oder ob wir ein anderes aufbauen. Das ist die Alternative.“ Und er stellte klar: „Wir sind nicht hierhergekommen, um euch aufzufordern, zu sterben oder zu töten; stattdessen sind wir hierhergekommen, um euch einzuladen, kämpfend zu leben, aber nicht mehr allein, von einander getrennt, so daß es keinen anderen Januar 1994 geben muß, so daß niemand sonst sein Gesicht verdecken muß, um gesehen zu werden.“
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